1. Teil der Trilogie
„Der Lockruf des Kumm ocke”
Wilhelm Menzel, der mit seiner Frau Henriette eine kleine Gärtnerei in der Nähe des Zobten in Niederschlesien betreibt, sieht im Jahr 1938 ein gewaltiges Nordlicht und fürchtet, es könne ein böses Omen sein.
Seine einzige Tochter Maria träumt den kindlichen Traum, einmal werde zu ihr ein Prinz aus einem fremden Land kommen und sie auf sein Schloss führen. Marias Traum wird sich erfüllen – wenn auch ganz anders, als von ihr erträumt.
Die schlesischen Worte „Kumm ocke” bedeuten so viel wie: „Komm doch!” – „Mach‘ doch mit!”
Wie Meilensteine säumen diese Worte den Lebensweg der kleinen Maria, denn bald bricht der Krieg aus und Wilhelm muss zu den Soldaten. Sein Leben, und das seiner Familie, verwirbelt.
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Der brennende Himmel 1. Teil der Trilogie Roman Beide Beine auf der Erde lang ausgestreckt, die Knie ein wenig, die Fersen weit auseinander, seine Beine ein langer spitzer Winkel, wegstrebend von dem, was er sein ICH nannte; die Füße, ganz weit weg, zur Seite gekippt, es sah aus, als wolle er nichts mehr mit ihnen zu tun haben, bedürfe ihrer nicht, wolle nicht, dass sie ihn von hier wegtragen. So saß Wilhelm Menzel, den Rücken an einen dicken Stamm eines Kastanienbaums gelehnt, über ihm ein gewaltiges, schattenspendendes Blätterdach. Seine Schuhe lagen verstreut, weggeschleudert wie nutzlose Gesellen. Die kräftigen Arme stemmten rechts und links auf dem Boden, die gespreizten Finger wie Fühler im kühlfeuchten Erdreich. Wilhelms Hinterkopf berührte den Stamm mit der Stelle, an der der Wirbel die kräftigen dunkelbraunen Haare im Kreis wachsen ließ. Das Gesicht verloren in weiter Ferne. Es war Sonntag. Ein strahlender Sonnentag. Im Sommer. Am Vormittag hatte Wilhelm mit Frau und Kind den Gottesdienst besucht, der Predigt gelauscht, die er manchmal recht erbauend fand, (aber nur manchmal), war anschließend, allein, für eine halbe Stunde in den Kretscham gegangen, hatte ein Bier getrunken, ein Kleines, ein Dünnbier, ein paar lockere Worte mit den Nachbarn getauscht, wie man Kleingeld wechselt. Profanes. Bedeutungsloses. Er hielt es für eine Pflichterfüllung. Seine Nachbarn waren schließlich seine Kunden. Während des ganzen Gelabers, das ihn kaum interessierte, ließ er seine Gedanken schon um den Nachmittag kreisen. Sonntagnachmittag. Er würde, allein, irgendwo sitzen, die Natur betrachten, die Gedanken kreisen lassen, seinen Gottesdienst feiern. Wilhelm Menzel liebte es allein zu sein. Allein mit seinen Gedanken. Allein mit der Natur. Den Vögeln in den ästen. Den Ameisen auf der Erde. Den weißen Wolken am Himmel. Auf dem kleinen Hügel, den die Wurzeln des Baumes nur mühsam aus dem flachliegenden Land heraushoben, wusste er sich mitten zwischen den Zinnen seiner Festung. Das Wort Festung hatte ihm gefallen, als er einmal tief und fest, so fühlte er es jedenfalls, über den Begriff Heimat nachgedacht hatte. Seine Festung, (er war stolz auf das sinnige Wort), wurde bewacht von drei Bergen, die er die Zinnen seiner Festung nannte. Rechts zur Seite, zum Gebirge hin, sah er den Hochwald, eine runde bewaldete Kuppel, unter der die Bergleute nach Steinkohle gruben. Links die drei Striegauer Berge, (ne Striezel und zwee Quärge, doas sein die Striegauer Berge; so reimten die Leute), voller Basaltbrüche mit harter Arbeit. Und vor ihm, seine Augen konnten sich nicht satt sehen, ragte der gewaltige Kegel des Zobten, der sein Kleid wandeln konnte: das graue trug er bei schönem, ein blaues bei schlechtem Wetter. Der Name Siling, den ein vandalischer Germanenstamm dem Berg etwa fünfhundert Jahre nach Christi Geburt gegeben hatte, wurde jetzt wieder modern. Wilhelm gefiel er nicht. Heiliger Berg hatten ihn die Vorfahren genant, weil er viele Geheimnisse trug. Auch ihm, dem Menzel-Gärtner, war er heilig, in seinem Sinne. Er sagte, wenn er zu ihm hinüber sah, wenn er mit ihm Zwiegespräch führte, (Wilhelm Menzel saß immer so, dass der Berg genau zwischen seinen gespreizten Füßen, genau in der Mitte der öffnung des von ihm wegstrebenden spitzen Winkels lag): He, Zutaberg!, sagte er; selten nur: He, Zobten. Keinem, so glaubte Wilhelm Menzel, fließe das Blut so schwer durch die Adern, wie einem Schlesier. Keinem anderen seien die Lebenswurzeln so tief in die Erde eingedrungen. Er kannte keinen Traum von fernen Ländern, kannte keine Sehnsucht dorthin. Manchmal geriet er in stillen Zorn, wenn seine Frau von Italien oder Griechenland schwärmte. Wunderbare Länder, sagte sie, ohne sie gesehen zu haben. Sie idealisierte alles Fremde. Alles Ferne. Warum nur? Wenn er träumte, liefen seine Gedanken keine Gefahr, sich in weiter Ferne zu verlieren. Selbst im Traum sah er das Land, das vor ihm lag. Sein Traumgesicht zeigte ihm, wie es ausgesehen haben mochte, damals, als die ersten Siedler kamen, das Land urbar machten. In seinem Kopf tanzten die Bilder, wie sie den Kampf gegen den Wald aufnahmen. Lichtungen um Lichtungen frei schlugen. Er hörte ihre Stimmen. Hörte das Hohaho!, wenn der Baum fiel. Hörte ihre Bravorufe, wenn ein neues Haus seinen Giebel in die Lüfte streckte. Lauschte ihrem Lobgesang, mit dem sie, dessen war er sich sicher, auch damals schon Gott lobten und dankten. Was wusste er schon? Vor siebenhundert Jahren waren die ersten Siedler hierher gekommen, so hatte er es in der Schule gelernt. Franken, Thüringer, Hessen, Braunschweigsche kamen, brachen die Wälder, verschmolzen unter dem Zobten zu Schlesiern. Sie lebten nach Magdeburgschem Recht, bauten ihre Städte nach schlesischer Sitte mit einem rechteckigen Ring, in der Mitte das Rathaus. Die Heilige Hedwig, vom bairischen Andechs nach Schlesien gekommen, schützte das reiche Land. Aber gerade weil es so reich war, begehrten es viele. Zuerst kamen die Mongolen, später die Habsburger, die Böhmen, die Preußen. Dem kleinen Mann blieb alles gleich. Arbeit und Not hießen seine Gesellen, der Reichtum schmückte die Schlösser. Wilhelms Gedanken kreisten ringsum. Er sah über die roten Dächer seines Dorfes die Schatten schnellziehender Wolken huschen. Das eine Dach ließen sie im Sonnenschein leuchten, das andere färbten sie dunkel. Wilhelm Menzel sah darin ein Sinnbild des Wechsels von Glück und Leid. „Eenmoal der, een andermol der! Asu ies doas Laaba.” Wie aufgereiht lagen die Höfe, die Dorfstraße als lange Schnur. Kaum mehr als hundert Seelen lebten im Dorf, aber es zog sich weit hin. Die einen Höfe rechts der Dorfstraße, die anderen links. Hinter jedem Hof langhingestreckt die weiten Felder. Für Wilhelm Menzel wäre es ein leichtes gewesen, Familiengeschichten zu erzählen. Er kannte sie alle, die Wiesner und Puffe, die Pluntke, Pielok, Reichert, Hilse, Heidrich und wie sie alle hießen. Wilhelm Menzel kannte ihre Freuden und ihr Leid. Eines blieb allen gleich. Sie arbeiten von früh bis spät, feiern ihre kleinen und manchmal auch größeren Feste, sie gebären und begraben. So war es, und so blieb es bis heute. Nur wenn Krieg über das Land gezogen war, quollen die ängste. Die Männer diskutierten im Kretscham, die Weiber laberten in den Küchen. Früher, als noch die Werber über die Dörfer zogen, um Soldaten für den Soldatenkönig (später für seinen Sohn, den Alten Fritz) zu rekrutieren, versteckten sich die jungen Männer zuerst in den Scheunen; aber bald kannten die Werber diese Tricks und steckten manche Scheune in Brand. Deshalb liefen die jungen Burschen, hörten sie die Trommeln der Werber, bis hinauf ins Riesengebirge, stiegen sogar über den Kamm, hinüber ins Böhmische. Versteckten sich dort, bis einer kam, zu sagen: Kumm ocke heem! Die Luft ist rein. Nach manch einem, der widerwillig seinen Ranzen schnürte, soll oft nach Monaten eine Böhmische gesucht haben, die ein dickes Bündel in den Armen trug, welches sie dem Deserteur als Mitgift präsentierte. Dann hieß es im Dorf: Nu ja, ies kummt haalt, wie’s kummt. Oaber lieber eene Böhmische am Hoalse, als den Preußenkönig eim Genicke! |
Roman
BoD 2008
ISBN 978-3-8370-2539-2<