2. Teil der Trilogie
„Der Lockruf des Kumm ocke”
Nachdem Wilhelm Menzel in Russland gefallen ist, muss Henriette die Gärtnerei allein mit ihrer Tochter Maria und dem jungen polnischer Zwangsarbeiter Józef bewirtschaften. Plage, Mühsal und Versuchungen regieren den Alltag.
Bald rückt die Kriegsfront näher und alle Bewohner müssen das Dorf verlassen. Henriette will die bevorstehende Flucht mit ihrem Bruder besprechen, kehrt aber nicht mehr in die Gärtnerei zurück. Józef, der junge Pole, hat sich unter dem Koks ein Versteck gebaut, um darin den Ansturm der Roten Armee zu überleben. Als alle Dorfbewohner weg sind, bringt der Pole die alleingelassene, hochschwangere Maria in sein Versteck und hilft ihr, ihr Kind zu gebären.
Um Maria und das Kind vor einer späteren Vertreibung zu bewahren, schmiedet er einen abenteuerlichen Plan.
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Der Schattenprinz
2. Teil der Trilogie Roman Józef lag auf seinem Bett im Treibhaus, blickte nach oben ins Eisengestänge, das die großen Glasscheiben trug. Vor einer halben Stunde hatte er sein Bett umstellen müssen. Jetzt stand es quer vor dem Eingang zum Heizungsraum. Hier war der einzige Platz, den das durchtropfende Wasser noch nicht erreicht hatte. Józef lag lang ausgestreckt, die Arme über der Brust gekreuzt, beobachtete, wie einzelne kleine Tröpfchen an den Eisenstangen über seinem Kopf entlang wanderten, verharrten, sich auffüllten, noch etwas weiter wanderten, wieder verharrten, bis sie sich zu einem schweren Tropfen vereinten. Der schwere Tropfen fiel immer an der Stelle herab, an der die Glasscheibe noch sicher im Kitt lag. Es war nicht nur die Feuchtigkeit, die von außen eindrang. Von innen bildete sich Schwitzwasser. Im Treibhaus die feuchte Wärme der Pflanzenerde, draußen der kalte Regen. Von Minute zu Minute konnte der Regen in Schnee übergehen, so kalt war es plötzlich geworden. Józef lag auf seinem Bett, als wäre er von aller Welt abgeschnitten. Er überlegte: Steige ich rechts aus dem Bett, bin ich im Heizungsraum, steige ich nach links, stehe ich im Treibhaus. Das ist also meine Welt. Nichts weiter. Nichts mehr. Mühsam setzte er sich auf, zog seine Knie ans Kinn und legte seinen Kopf obenauf. Vom unablässigen In-die-Höhe-starren schmerzte sein Genick. ‘Soll es nur tropfen’, dachte er. Józef fühlte sich wie ein Gefangener. Und wiederum nicht. Er hätte nur aufstehen brauchen, links heraus, den Mittelgang des Treibhauses entlang gehen, die Tür öffnen, den Garten durchschreiten, niemand würde ihn sehen. Niemand würde sich ihm in den Weg stellen. Niemand würde ihn aufhalten. Er könnte heimgehen, heim nach Polen. So war er eigentlich ein freier Mensch und doch ein Gefangener, ein Gefangener seiner selbst. Denn es gab etwas, das ihn gefangen hielt. Vor den Deutschen fürchtete er sich nicht. Er tat alles, was ihm auferlegt war. Er tat es an dem Ort, an den sie ihn gestellt hatten. Er trug sein P deutlich sichtbar auf der Jacke, sobald er das Treibhaus verließ, trug es sogar voller Stolz. Wie die deutschen Bonzen ihr Parteiabzeichen auf der Brust tragen, sagte er sich, so trage ich ein großes P. Vorn und hinten. Alle dürfen es sehen. Ich bin ein Pole. Ich bin stolz, ein Pole zu sein. So dachte er. Die anrückenden Russen fürchtete er wenig. Seine Befreier würden sie sein. Sie würden nicht nur ihn, sie würden ganz Polen befreien. Warum sollte er sich fürchtenß Nur: würde eine verirrte Kugel seinen Weg kreuzen, was dannß Aber daran konnte, wollte er nicht glauben. Er hatte Vorsorge getroffen. Vorm Einschaufeln des Koks in den Koksraum hatte er aus dicken Holzbohlen eine Höhle gebaut, die Hölzer gut abgestützt, wie es die Bergleute im tiefen Stollen untertage machen. Erst danach den Koks darüber geschüttet. Sein geheimes Lager lag unter hundertzwanzig Zentnern Koks versteckt, der Zugang listreich in der dunkelsten Ecke. Einige Rohrmatten, die im Sommer zum Schutz vor zu grellem Sonnenlicht über die Glasfenster des Treibhauses gerollt werden, hatte er hinein geschmuggelt. Sie würden ihn vor der Kälte des Steinbodens schützen. Die Idee, ein Versteck anzulegen, war ihm schon am ersten Tag in der Gärtnerei gekommen, als er den großen Haufen Koks vom Auto schaufeln musste. Damals hatte er überlegt: Wenn die Deutschen mich erneut abholen wollen, um mich in eines ihrer Lager zu stecken, verkrieche ich mich. Mochten hundertzwanzig Zentner Koks auch schwere Arbeit bedeuten, der Koks erschien ihm als Gottesgeschenk. Jetzt, vor dem zweiten Winter, wieder verbarg der Koks sein Versteck, erhielt sein Bunker einen neuen Sinn. Wenn die deutschen Soldaten ihre Heimat verteidigen, unerbittlich, dann werden viele Kugeln fliegen. Sehr viele Kugeln, dachte er sich. Aber mich geht der Krieg nichts an. Mich nicht. Ich werde in mein Versteck kriechen, werde warten, bis der Kampf vorbei ist. Józef überlegte hin und her. Er ärgerte sich. Warum hatte er sein Refugium so klein gebautß Damals hatte er nur an sich gedacht, an seine Sicherheit. Alles andere war ihm beim Bau so fremd und entfernt gewesen wie Nordpol oder Südpol. Aber jetzt, (zu viel war geschehen!), jetzt wünschte er, er könne Henriette und Maria mit in sein Versteck nehmen. In seinen kryjówka. Seinen Schlupfwinkel. Er schalt sich, eigensinnig gedacht zu haben und wünschte, er könne Maria und Henriette ebenfalls über die Kämpfe hinweg retten. Zur Not wäre Platz für zwei Menschen. Aber niemals für drei. An einen Umbau war nicht mehr zu denken. Der Koks müsste zur Luke wieder hinaus geschaufelt, dann umgebaut, danach der Koks wieder hinein geschaufelt werden. Das würde man sehen. Sein Geheimnis würde kein Geheimnis bleiben. Józef drehte und streckte sich, legte sich wieder lang ausgestreckt auf den Rücken. Die Arme verschränkt unter dem Kopf, blickte er ins Glasdach. Der Regen kam ihm gerade recht. Weder zum Frühstück noch zum Mittagessen war er drüben im Wohnhaus gewesen. Seine Ausrede lag bereit: &lrquo;Ich kann doch nicht die gemütliche Wohnstube nass machen.’ In Wahrheit bedrängte ihn vielmehr. Es gärte in ihm. Wie oft war er nächtens bei Henny gewesen. Im Gärtnerhaus. Bei ihr im großen, breiten Bett. Sie hatte ihn stets gelockt, hatte ihn nach dem Abendessen geheißen zu bleiben. Hatte Wein eingeschenkt. Funkelnden roten Wein in herrlichen Gläsern. Suchte er nach einer Ausrede: Ich muss noch dies oder jenes erledigen, glaubte sie ihm nicht. Hieß ihn, es erst am anderen Tag zu tun. Ging er trotzdem, kam sie zu ihm ins Treibhaus. Kam geschlichen. Lautlos. Wie eine Katze. |
Roman
BoD 2008
ISBN 978-3-8370-2540-8