Die Ehrenwortgeschichte
Roman
Dieses Buch widme ich meinen Enkelkindern in der Hoffnung, dass sie niemals einem Rattenfänger erliegen.
Vorwort:
Diese kleine Vorrede richtet sich hauptsächlich an die Personen, die die dargestellte Handlung wiedererkennen und miterlebt haben. Dieses Buch wurde in Unschuld und in der Nacktheit des Geistes geschrieben, und des Verfassers Hauptbestreben galt einer fülligen, lebendigen, intensiven Darstellung. Dieses Buch ist ein schöpferisches Werk, und es lag dem Verfasser fern, irgend jemanden zu porträtieren. (Aus der Vorrede zum Roman „Schau heimwärts, Engel!“ von Thomas Wolfe.)
Als er den Brief zum ersten Mal liest, hallen zwei Stimmen in seinem Kopf und er liest den Brief wieder und wieder und je länger er liest, um so deutlicher kommen die Stimmen, zwei Stimmen sind es, die in ihm schreien, er hört sie, zuerst als eine ferne Melodie, die näher kommt, lauter wird, klarer, nun versteht er sie auch, die beiden Stimmen, die in ihm toben, zwei Stimmen, die gleichzeitig schreien:
Sieg Heil! schreit die eine, die andere: Oh mein Gott! Der groß gewachsene, kräftige Mann sitzt und liest, wieder und wieder, dann lehnt er sich langsam und mit großer Vorsicht zurück, sucht Distanz zu dem Papier, als spüre er die Gefahr, die von diesem Brief ausgeht. Ganz vorsichtig löst er seine Hände, führt sie behutsam zur Seite, will jeden weiteren Kontakt zu dem Papier unterbinden; das edle, wie eine dünne Marmorscheibe wirkende Blatt bleibt, Kälte ausstrahlend, einsam in der Mitte des Schreibtisches zurück, es hebt sich klar von der grünen Farbe der Schreibunterlage ab, die ihm jetzt ganz allein gehört. Die lang ausgestreckten Arme des Mannes liegen rechts und links auf dem Holz, als sollten sie Wälle sein, die dem, was da geschrieben steht, jegliches Entweichen verwehren wollen. Wie Trompetenechos in zerklüfteten Bergen aus unerklärlichen Weiten widerhallen, so schreien die Stimmen in seinem Kopf, gleichzeitig schreien sie:
Sieg Heil! die eine, die andere: Oh mein Gott! Mit dem Brief ist alles zurückgekehrt, was er längst bewältigt glaubt. Alles ist wieder da. Alles.
Der groß gewachsene, kräftige Mann, Bodo Greiffenberg, Besitzer einer florierenden Ziegelei im kleinen Städtchen Altenrain, irgendwo im Fränkischen, sitzt wie erstarrt an seinem mächtigen Schreibtisch aus glänzendem Mahagoniholz – er, der Herr ist über mehr als hundert Arbeiter in seinem Betrieb, Ratsherr der Stadt Altenrain, Aufsichtsrat einer Bank, Träger vielfacher Auszeichnungen, einflussreicher Delegierter seines Berufsverbandes, aussichtsreicher Kandidat seiner Partei für die nächste Landtagswahl, er sitzt auf dem grün gepolsterten Stuhl, von dem er sein Leben und das Leben so vieler Menschen dirigiert und bestimmt – und fühlt sich selbst plötzlich so klein. Sein silbern glänzendes Grauhaar ist seitlich gescheitelt, eine Strähne hat sich gelöst und hängt in die Stirn, er lässt sie gewähren; auch das ist ganz gegen seine Gewohnheit, in seinem Umfeld gibt es keinen Platz für Unordnung, Korrektheit und Eitelkeit halten sich die Waage, wenn er sein Haar in die Stirn hängen lässt, muss sein Gleichgewicht aus der Balance geraten sein. Bodos Atem geht schwer, das Heben und Senken seiner Brust ist deutlich zu sehen. In seiner Starre drückt er seinen Oberkörper mit den weit ausgestreckten Armen nach hinten in die gepolsterte Rückenlehne des Sessels; seine, für diesen kraftvollen Körper eigentlich viel zu schlanken Hände liegen flach auf dem Tisch, rechts und links der grünen Schreibunterlage, auf der jetzt der Brief liegt, dieses einzelne Blatt Papier, dem es, verstärkt von Minute zu Minute, gelingt Blut zu saugen. Herzblut. Ein ekliger Egel. Die ringlosen Finger hält Bodo auf dem glatten Mahagoniholz gespreizt, als seien sie Wurzelfäden, aus denen er die Kraft erhofft, die ihm Halt geben soll – und in ihm gärt der Wunsch, an diesen Fingern wüchsen Krallen, wie sie ein Tiger besitzt oder ein Leopard. Die steile Schrift des Briefes ist schroff ins marmorierte Papier gedrückt, das Schriftbild wie gemeißelt. Kälte strömt aus dem Papier. Du! sagt der Brief. Du bist es gewesen! Oder hast du vergessen? Kann man so etwas vergessen? Bodo Greiffenberg schüttelt unmerklich den Kopf. Nein, redet es in ihm, ich habe nicht vergessen. Auch wenn Jahre vergangen sind. Jahrzehnte. Ein Kind war ich damals. Ein Kind! Bodos Kopf bewegt sich. Schwankt von rechts nach links, leicht nur. Bodo atmet tief.
Soll das deine Entschuldigung sein?, fragt ihn der Brief. Mit vierzehn bist du kein Dummkopf mehr gewesen. Bodo schließt seine Augen. Du hast gewusst, dass das, was du tust, Unrecht ist. Aber du hast es trotzdem getan.
Bodos Finger wachsen jetzt Krallen. Er treibt sie ins Holz. Befehl? Ehrenwort? Dass ich nicht lache! Die Briefstimme hallt im Echo. Bodo Greiffenberg, du bist ein Versager! … Versager! … Versager! Die Zeit der Verharrung wuchs. Es dauerte, bis es Bodo Greiffenberg gelang freier zu atmen, auch wenn sein Atem noch wie schwere See auf und ab rollte. Die Erinnerung hatte ihn überschwemmt. Kindheit vergeht nicht, das hatte er längst erfahren. Auch die Adjektive vergehen nicht, die ihr angehängt werden. Aufgedrängt. Aufoktroyiert. Von wem eigentlich? Und mit welchem Recht?
Eine Kindheit voller Stürze. Eine einzige Stunde, eine Minute, oft nur ein Wimpernschlag, schon wechseln die Farben der Kindheit. Die ersten Jahre gelebt im Grün kindlichen Hoffens, erzogen im Blau der Kindertreue, des unerschütterlichen Vertrauens – danach aber, an Vaters Hand, ins Braun ideologischer Verblendung getorkelt, zuletzt gar bis ins Rot des Infernos. Farben der Kindheit mutieren, geben Signale, bestimmen die Wege. Und nun, in der Fülle seiner persönlichen Macht, im Zenit seines Lebens, sitzt dieser Mann hier und aus dem Abgrund seiner Vergangenheit steigen die Blitze, lösen Sturzbäche verquerer Gefühle, verwirbeln alles im Zyklon der Traumgesichte. Die Kindheit bestimmen die Anderen, nie das Kind selbst.
Jetzt weiß er es, der Brief ist der Beweis: Kindheit vergeht nicht. Kindheit besitzt ein Echo und Echo hallt nach.
ENDE DER LESEPROBE