Leseprobe aus: Die Stellvertreterin
Roman
Die Stellvertreterin stand pünktlich vor der Zimmertür, klopfte die verabredeten Zeichen, (zweimal lang, dreimal kurz), trat mit einem strahlenden Lächeln ein, wünschte einen „Guten Morgen” und fragte im gleichen Atemzug: „Hast du gut geschlafen?”
Sie trug ihren bekannten, marineblauen Hosenanzug. Ihre Figur wirkte sehr sportlich. Aus dem Handschlag wollte sie eine Umarmung machen, Thorsten F. schreckte davor zurück.
„Hab´ dich nicht so!” sagte sie und dazu: „Ich habe was mitgebracht für uns.” Alles geschah in guter Stimmung. Ihrer Umhängetasche entnahm sie eine Flasche Pikkolo und bat um zwei Sektgläser.
„Sektgläser besitze ich nicht”, antwortete Thorsten, angelte zwei Gläser vom Bücherbord, aus denen er sein Mineralwasser trank, stellte sie wortlos auf den Tisch.
„Aller Anfang ist schwer.” Sie ließ lachend das perlende Getränk in die Gläser laufen. Ihr ganzes Benehmen war augenfällig freundlich. Sie benahm sich, als wären die Freitagsbegegnungen längst etwas Selbstverständliches. Mit ihrem Glas stieß sie an das auf dem Tisch stehende Glas, rief mit aufgesetzter Freundlichkeit: „Salute!”
Sie trank hastig, trank ihr Glas in einem Zug leer. Thorsten F. wollte nicht trinken, er wollte aber auch nicht unhöflich sein. So benetzte er lediglich seine Lippen.
„Komm, sei kein Frosch.”
Die „Stellvertreterin” lachte ein sonderbares Lachen. Thorsten F. glaubte zu spüren, dass ihre Stimme genau so unecht ist, wie ihr ganzes Gehabe. Sie spielte die Rolle der Überlegenen, aber sie spielte sie nur. Das zu erkennen, dazu waren keine psychologischen Kenntnisse notwendig. Deshalb wuchs in ihm die Hoffnung, sie werde, wenn er sich weigere mitzuspielen, ihre Komödie abbrechen, werde selbst erkennen, dass sie ihrer Rolle nicht gewachsen ist, würde wegen der ausbleibenden Beifallsbekundung ihres Publikums weinend von der Bühne stürzen – doch sie hielt durch. Thorsten F. unterschätzte die Kraft, die diese Frau in sich trug, unterschätzte ihre Willensstärke. Unterschätzte (das erzählte sie ihm erst viel später) ihre von ihm geweckte Freude an der Lust.
Das Bett war ordnungsgemäß gemacht, die Tagesdecke glattgestrichen. Mit einem Schmunzeln quittierte sie diesen Anblick. Um keine Pause entstehen zu lassen, die ihre Aufführung beschädigen könnte, verirrte sich ihr Ton. Forsch herrschte sie Thorsten F. an:
„Ausziehen!” Im selben Moment begann sie ihre Bekleidung abzulegen. Sie war schnell nackt.
Alle Ambivalenzen menschlicher Gefühle überschwemmte Thorsten. Er hatte sich vorgenommen, alle für zu unterdrücken, alle wider siegen lassen. Er wollte dieses Spiel nicht mehr mitspielen. Hilfesuchend blickte er zum Bahnhof hinüber, hoffte, die ein- und ausfahrenden Züge würden ihn an sein Zuhause erinnern, die Beschwörungen der Eltern aufleben lassen. Ihren Beistand herbeizaubern. Würden seinem inneren Wollen ein lautstarkes Nein aufoktroyieren. Ich will nicht, und ich werde nicht …
… von hinten umfasst ihn ein nackter Arm. Dreht ihn. Lockt ihn. Ein weicher Frauenkörper klammert sich fest, einer, der dem Ertrinken nahe ist. Nicht mehr barsches Befehlen, kein grimmiger Blick. Ein gehauchtes „komm”, ein flehender Blick. Schwimmende Augen. Zuckerbrot jetzt, statt Peitsche. Der wohlige Geruch, das blasse Weiß der Haut, die rosigen Spitzen.
Dreifaches Nein gegen aufquellende Verwirrung. Wie alle Verwirrten kommt er zu keinem Ergebnis. Ich bin kein Heiliger schreit plötzlich die Stimme, die sich vorgenommen hatte dreifaches nein zu befehlen. Anarchie zwischen Verstand und Gefühl. Trutzburgen fallen. Werden geschleift. Sinne obsiegen.
ENDE DER LESEPROBE